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Leseprobe
Prolog
Fast sechzehn Jahre ... fünfzehn Jahre und sieben Monate, um genau zu sein. Endlich war es so weit. Stephan stand vor einem unscheinbaren Geschäftshaus im Geschäftsviertel von Trier. Er hatte einen Großteil seiner Energie in die Suche nach diesem Ort, oder besser, diesem bestimmten Mann gesteckt. Aber nun hatten ihn seine Bemühungen endlich ans Ziel gebracht. Das hoffte Stephan jedenfalls. Eigentlich wusste er nicht genau, was ihn hier erwartete, aber er musste einfach endlich Gewissheit haben. Er hatte in den vergangenen Jahren mehr Leid erlebt, mehr Schlachten geschlagen, mehr Entbehrungen erlebt und vor allem mehr Zweifel in seinem Herzen getragen als manche Dörfer, die er kannte, in einer Generation zusammen genommen. Und das alles immer mit diesem Namen im Hinterkopf. Was konnte ihm dieser Mann über sich und seinen Vater erzählen? Was war an diesem Mann so wichtig, dass sein Vater ihn mit seinem letzten Atemzug erwähnt hatte? Gerard de Miletto. Wenn er so darüber nachdachte, war seit dem Tode seines Vaters wohl kein Tag in seinem Leben vergangen, an dem ihm dieser Name nicht ins Bewusstsein gedrungen war. Er hatte Jahre mit der Suche nach ihm verbracht, war seinetwegen durch das halbe Reich gereist, immer und immer wieder hatte er Rückschläge erlitten, musste bestechen, einbrechen, ja sogar töten, um seinem Ziel näher zu kommen. Aber nun endlich hatte er es geschafft, es konnte nicht anders sein, er musste es einfach sein. In diesem verdammten Geschäftshaus mussten die Antworten auf all seine Fragen liegen. Stephans Hände begannen zu schwitzen und das Atmen fiel ihm schwer. So in etwa erging es ihm in seinen ersten Schlachten, damals noch als Fußsoldat, oder als er zum ersten Mal mit einer Frau das Bett teilte. Aber so hatte er schon ewig nicht mehr empfunden. Er hatte Angst vor dem, was ihn hinter dieser Tür erwartete. Die vielen Leute um ihn herum begannen schon, ihn misstrauisch anzuschauen. Also, was war so schwer, ein einfaches Geschäftshaus zu betreten? Stephan überlegte kurz, ob er anklopfen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder und trat ein.
Kapitel 1 - Der Überfall
Es war einer von diesen Träumen, bei denen man weiß, dass man träumt, aber Einfluss darauf nehmen kann man nicht. Stephan stand auf dem Feld und hatte das Gefühl, sich mit den Krähen in die Lüfte zu erheben. Er genoss diese Art von Träumen, dieses Gefühl, zu fliegen. Ein bis zweimal im Jahr hatte er so einen Traum. Aber irgendwas war dieses Mal anders. Normalerweise flog er der schweren Arbeit davon, weg über die riesigen Waldgebiete, entlang des glitzernden Verlaufes der Rur, nur um sich später wieder an seinem Arbeitsplatz niederzulassen und unbemerkt in das Haus seiner Mutter zurückzukehren. Diesmal wurde die Luft dünner, als er flog, er bekam schlecht Luft. So dünn, dass er befürchtete, er müsse landen, als er plötzlich ein heftiges Rütteln verspürte. Er blickte in das erschrockene Gesicht seines Vaters, die Atemnot war immer noch da, und jetzt begann es auch, in seinen Augen zu beißen. Panik erfasste ihn. Es war kein Traum mehr, er war nicht in seinem Traum dabei erwischt worden, wie er seiner Arbeit fern blieb. Hier drohte reale Gefahr. Sein allmächtiger Vater, der immer, wenn er denn da war, alles im Griff zu haben schien, brüllte ihn stumm an. Langsam kamen zu den Lippenbewegungen entsprechende Worte, als sich die Schlaftrunkenheit mit einem Mal in Luft auflöste. .....„Feuer, du musst sofort raus, ich hole deine Schwester“..., und schon war er verschwunden. Panik und Atemnot zwangen Stephan von seinem Lager. Heiß war es. Sehr heiß, die Sicht verschlechterte sich, der Rauch wurde dichter, das Atmen fiel schwerer. Er tastete sich in die Richtung, in die er den Ausgang vermutete, kam kurz auf die Beine und stolperte sofort wieder, rappelte sich wieder auf und stieß mit seinem Vater zusammen, der seine dreijährige Schwester auf dem Arm trug. Sein Vater drehte ihn und stieß ihn voran durch den nächsten Durchgang, hinter dem es bedrohlich hell war. Er vertraute seinem Vater, dass dies der einzige Weg aus dem Verderben sein würde. Wenn Stephan bis gerade dachte, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Der Rauch brannte in seiner Lunge, als ob er das Feuer selbst einatmete. Doch die Vertrautheit dieser Umgebung und die damit verbundene Erkenntnis, dass sie dem rettenden Ausgang sehr nahe waren, gaben ihm die Kraft, die letzten Meter hinter sich zu bringen. Als er den Ausgang erreichte, ertönte hinter ihm ein Geräusch, eine Art Krachen, gefolgt von einem kurzen Schrei. Stephan drehte sich um und erstarrte vor Schreck. Sein Vater und seine kleine Schwester waren schon so gut wie in Sicherheit, als sich ein Dachbalken löste und die beiden halb unter sich begrub. Er wollte hinein und den beiden zur Hilfe eilen, doch sein Vater gebot ihm mit einer Geste und einem Blick, die ihm das Mark in den Knochen gefrieren ließen, Einhalt. Er war nur zwei, drei Schritte entfernt und war doch machtlos. Er musste zusehen, wie das Feuer am Nachtkleid seiner Schwester entlang züngelte. Ein schmorender Balken hatte seinen Vater in Höhe des Rückgrates am Boden festgenagelt und seine Schwester wahrscheinlich schon mit seinem Gewicht erschlagen ...hoffentlich. Doch sein Vater, ein Vorbild an Kraft und Mut, wie es nur ein außergewöhnlicher Mann seinem siebenjährigen Sohn sein kann, lebte noch. Stephan begriff immer noch nicht so richtig, was hier vor sich ging. Angst schnürte ihm die Kehle zu. „STEPHAN!....STEEEPHAAAN!“, drang es an sein Ohr, und er wurde wieder etwas weiter in die Wirklichkeit zurückgerissen. Wie lange sollte diese Qual noch weitergehen? Er wollte nichts weiter, als ohnmächtig zusammensinken, um sich diesen schrecklichen Gefühlen in nie gekanntem Ausmaß zu entziehen. Doch diese kurze Zeitspanne schien unendlich. „STEPHAN, hör mir zu!“ Es war der reine Alptraum, er konnte das Gesicht seines Vaters durch die Flammen kaum noch erkennen und musste ein Stück zurückweichen, als er merkte wie seine Haare versengt wurden. „Stephan, schwör mir: Sprich mit Gerard de Miletto“, hörte er seinen Vater rufen, bevor ein Knallen und das grelle Licht der Flammen seinen Vater verschlangen.
Eine Welt brach für Stephan zusammen. Rückwärts fallend, hustend und nahezu blind versuchte er, sich vor den gefährlichen Flammen in Sicherheit zu bringen. Er schaffte es, sich in einiger Entfernung in den Schlamm zu verkriechen, um wieder zu Atem zu gelangen. Nicht nur das Haus seiner Eltern stand lichterloh in Flammen. Einige andere Häuser teilten dasselbe Schicksal, und auf den schlammigen Pfaden vor den Hütten bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Soldaten liefen, laut grölend, Keulen schwingend zwischen den Hütten umher und richteten unter seinen Nachbarn und Freunden ein Blutbad an. Er beobachtete gerade, wie sein bester Freund Michael etwa 15 Schritte von ihm entfernt völlig abwesend aus seiner Hütte taumelte und wollte helfen, als ein halb bekleideter Soldat, fluchend hinter Michael aus der Hütte trat und ihm mit einem Streitkolben den Schädel zerschmetterte. Ein zweiter Soldat folgte ihm, rief ein paar Worte, die Stephan nicht verstand, und hielt sich daraufhin vor Lachen den Bauch. Irgendetwas passierte zu diesem Zeitpunkt mit Stephan. Vielleicht gibt es einen Punkt, an dem ein siebenjähriger Junge die Wirklichkeit verdrängt, wenn sie so grausam ist, dass sie selbst gestandene Männer um den Verstand bringen kann. Dass er diesen Punkt erreicht hatte, war gut für ihn, denn es sollte noch schlimmer kommen. Dennoch war er mit einem Mal so klar bei Verstand, dass er begriff, was hier vor sich ging. Er hatte schon die eine oder andere Geschichte von den Fehden der verschiedenen Burgherren gehört und auch von den kleineren Scharmützeln, die sie sich lieferten. Jedem war es bewusst, dass es jedes Dorf irgendwann treffen könnte und wahrscheinlich auch würde, würde nicht endlich ein starker Kaiser die Adeligen vereinigen, schenkte man den Gesprächen der Erwachsenen Glauben. Und nun hatte es sein Dorf getroffen. Überleben war in solch einer Lage der Grundgedanke. Um jeden Preis um diese blutrünstigen Soldaten, die weder vor Frauen noch vor Kindern Halt machten, einen weiten Bogen machen. Er dachte gerade über ein sicheres Versteck nach, als sich eine Hand von hinten um ihn legte und gerade noch rechtzeitig den Mund erreichte, um den Schrei zu unterdrücken. Es war seine Mutter. Was war bloß in ihn gefahren, ermahnte er sich jetzt, als er sich fest an sie klammerte. Dass er noch nicht an sie gedacht hatte, war unentschuldbar. Er war doch nun der Herr im Hause, der Beschützer. Doch es waren erst wenige Herzschläge vergangen, seitdem er geweckt worden war und in Wirklichkeit brauchte er seine Mutter wohl mehr als sie ihn. Sie warteten einen passenden Moment ab und liefen im Schutz der Dunkelheit zum Waldrand, um sich dort vor den Soldaten zu verstecken. Unglücklicherweise wurden sie von gerade dem Soldaten beobachtet, der Stephans besten Freund auf dem Gewissen hatte und gerade mit der Schändung seiner Mutter fertig war. Anno, er war der Hauptmann der Truppe, war stets der Erste, der sich an der Kriegsbeute gütlich tun konnte. Nun konnte sich sein Unterführer und Saufkumpan an der doch schon arg zugerichteten Mutter dieses Jungen vergnügen. Er war sicher, dass sie es nicht überleben würde. Dieser Junge hatte mit einem Mal vor der Szene gestanden, als er es ihr gerade besorgen wollte. Als der verdammte Bengel dann auch noch apathisch aus der Hütte taumelte und „Mama, Mama“ wimmerte, konnte seine Manneskraft einfach nicht mehr so, wie er es gewohnt war. Naja, ähnliche Situationen waren ihm nicht gänzlich unbekannt. Aber bei diesem Mal war dieser verfluchte Hurensohn schuld. Unglücklicherweise blieb sein Malheur nicht unerkannt, und sein Kumpan brach in Gelächter aus. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Eigentlich hatten sie die Anweisung, die Knaben zu verschonen und mit zur Burg zu bringen. In diesen unruhigen Zeiten wurde jeder Krieger gebraucht, und im Laufe der Jahre fanden sich fast alle mit ihrem Schicksal ab. Auch wenn es sich nur um einfache Bauernsöhne handelte, als Kämpfer für die vorderste Reihe waren sie allemal gut genug. Allerdings durften sie nicht älter als zehn sein. Ältere hatte man schon für die eigenen Truppen rekrutieren wollen, merkte jedoch schnell, dass bei diesen Bengels der Rachedurst dem Überlebenstrieb schon den Rang abgelaufen hatte. Nach einigen unkoordinierten Angriffen aus den eigenen Reihen folgten entsprechende Hinrichtungen, und man einigte sich auf die Altersgrenze von ungefähr zehn Jahren. Seitdem lief alles einwandfrei. Aber diesen hier konnte er nicht laufen lassen, nachdem er ihn so vor seinem Kameraden bloß gestellt hatte, dafür musste er bezahl-en. Danach hatte er zu Ende gebracht, was er angefangen hatte. Zumindest hatte er ihr gehörig Respekt eingeprügelt. Zwar hatte es mit dem Akt immer noch nicht geklappt, was ja auch kein Wunder war, aber gezeigt hatte er es ihr trotzdem. Als er nun die beiden Gestalten Richtung Wald laufen sah, sah er für sich doch noch die Chance, seine Manneskraft unter Beweis zu stellen. Anno nahm sofort die Verfolgung auf und erreichte den Waldrand wenige Momente nach Stephan und seiner Mutter.
Sie ließen äußerste Vorsicht walten und trotzdem, als Stephan sich kurz vor dem Waldrand noch einmal umdrehte, stellte er fest, dass sie verfolgt wurden. Zum Glück war es nur ein einzelner Soldat, und mit etwas Glück konnten sie sich vor ihm verstecken. Nachdem Stephan seiner Mutter von ihrem Verfolger berichtet hatte, bewaffneten sie sich noch notdürftig mit herumliegenden Ästen und suchten Schutz in einer Mulde auf dem Waldboden. Kurze Zeit später vernahmen sie schon das Knacken von Geäst am Waldrand. Sie konnten ihren Verfolger über die Dunkelheit fluchen hören und dankten Gott für die bewölkte Nacht und den dichten Wald. Beide standen so unter Spannung, dass sie es kaum wagten zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Plötzlich war ein Geräusch ganz in der Nähe zu vernehmen, und Stephan hatte das Gefühl, man könne seinen Herzschlag noch im Dorf hören. Doch es war nur ein Kaninchen, welches wie sie den richtigen Moment abgepasst hatte, um zu fliehen. Als sie gerade beschlossen hatten, sich etwas tiefer in den Wald zu bewegen, hörten sie abermals ein Geräusch. Diesmal vom Waldrand und diesmal wurde das Geräusch zusätzlich vom Knistern einer Fackel begleitet. Sie hatten ihre Chance verpasst. Während sie regungslos vor Angst in ihrer Mulde gelegen hatten, hatte sich dieser Soldat eine Fackel besorgt, um seine Jagd fortzusetzen. Die Zeit der wuchtigen Herzschläge begann erneut für Stephan. Er hatte das Gefühl, dass er brechen müsse, konnte diesem Trieb jedoch so gerade widerstehen. Wieder begannen einige endlose Minuten in der bangen Hoffnung, unentdeckt zu bleiben. Doch der Soldat war keiner von der dummen Sorte. Er suchte systematisch, lief nicht kreuz und quer. Wenn er seinen Kurs beibehalten würde, hätte er ihr Versteck gleich ausgemacht. Dies erkannte wohl auch Stephans Mutter, erhob sich leise, trat hinter einen Baum, und als der Soldat sie passierte, schlug sie ihm mit aller Gewalt ihren Knüppel auf den Hinterkopf. Der Soldat ging auf die Knie, die Fackel flog auf den Boden, und Stephan wollte gerade Gott ein zweites Mal an diesem Abend danken. Dann sah er zu, wie sich die Fackel wieder erhob und nicht in der Hand seiner Mutter zu sehen war. Nun lag es an ihm zu handeln. Mit einem wilden Gebrüll rannte er aus seinem Versteck auf seinen Gegner zu. Den Knüppel schwingend, holte er kurz vor seinem Gegner aus, um ihn seine ganze Wut mit aller Kraft spüren zu lassen. Er sah noch kurz etwas silbrig Glänzendes auf sich zukommen und es wurde dunkel. Das darf doch nicht wahr sein, dachte Anno, als er dem heran-stürmenden Bengel den Kettenhandschuh vor die Stirn schlug. Zwei Bengel, die ihm die Tour versauen wollten, und das an einem Abend. Aber diesmal würde er sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Dieser hier würde eine ganze Zeit schlafen und wohl erst morgen auf dem Weg nach Worringen wieder aufwachen. Der andere brauchte sich ums Aufwachen keine Gedanken mehr zu machen. Jetzt konnte er sich seiner Beute zuwenden. Diese hier war, soweit er es im Fackelschein beurteilen konnte, noch schöner als die erste, die mittlerweile ihrem Sohn ins Jenseits gefolgt sein dürfte. Kampfeslustig hatte sie ihm einen kleinen Ast auf den Helm geschlagen, was für leichtes Brummen im Schädel sorgte, mehr aber auch nicht. Nun ging sie wieder zum Angriff über. Sie konnte es nicht wissen, aber ihre Wut machte ihn scharf, so scharf, wie er schon lange nicht mehr war. Er wich ihrer ersten Attacke geschickt aus, parierte die zweite und konterte mit einem Beinfeger. Schon lag er auf ihr, entledigte sich seiner Beinlingenund seines Schurzes, presste ihre Beine auseinander und drang gewaltsam in sie ein. Endlich dachte Anno, kann ich mal wieder zeigen, was für ein echter Kerl ich bin, sah in die tränenunterlaufenen Augen und drückte ihr langsam mit beiden Händen die Kehle zu.
Kapitel 2 - Entführt
Als Stephan erwachte, schien ihm der Kopf zu platzen. Solch hämmernde Kopfschmerzen waren ihm bis zum heutigen Tage fremd gewesen. Er betastete vorsichtig sein Gesicht, die Augen immer noch geschlossen. Eine böse Schwellung hatte sich über seine rechte Gesichtshälfte gezogen. Was war passiert? Was waren das für seltsame Geräusche? Und warum bewegte sich seine Schlafstatt? Langsam erinnerte er sich an die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Oder war seither die Sonne bereits ein zweites Mal aufgegangen? Mit einer Welle der Angst, Verzweiflung und Übelkeit wurde ihm bewusst, welch schreckliches Schicksal seiner Familie, ja seinem ganzen Dorf widerfahren war. Mutter! Was war mit ihr geschehen? Er war nun ihr Beschützer. Er dachte über die letzten Augenblicke des Erlebten nach. Sein Angriff auf den Soldaten war anscheinend nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Er gestand sich ein, nachdem was er im Dorf gesehen hatte, dass nicht viel Hoffnung für ihn bestand. Doch an diesen Funken wollte er sich klammern. Stephan öffnete vorsichtig die Augen, nur um von einer neuen Welle Kopfschmerz überwältigt zu werden. Zuerst konnte er seine Umgebung nur schemenhaft erkennen. Er saß in einem Wagen, welcher von zwei Arbeitspferden gezogen wurde, was die Geräusche und die Bewegungen erklärte. Um ihn herum saßen drei Jungen und zwei Mädchen aus seinem Dorf und starrten ihn an. Ihren Mienen zufolge hatten sie bei dem Überfall auf ihr Dorf ähnlich harte Schicksalsschläge hinnehmen müssen wie er. Er selbst war der älteste von ihnen. Nur selten hatte er mit den Mitgliedern seiner unfreiwilligen Reisegemeinschaft gespielt. Der Jüngste dürfte höchstens vier Jahre alt sein, während Magdalena wohl schon sechs sein müsste. Er wusste nicht, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte. War er nun auch ihr Beschützer? Als Beschützer gäbe er wohl ein schlechtes Bild ab, vor allem wenn ihm die Tränen die Wangen herunterliefen so wie in diesem Moment. Aber er konnte nichts dagegen machen. Er schloss die Augen wieder und klammerte sich an den Hoffnungs-schimmer, dass seine Mutter noch leben würde. Da fiel ihm ein, dass sie in diesem Fall wohl auch in der Begleitung des Wagens sein müsste. Er zwang sich, nochmals die Augen zu öffnen und erhob sich halb, um über den Rand des Fuhrwerks blicken zu können. Eine Schar von etwa 20 bis 30 Soldaten, teils auf einem Pferd, teils zu Fuß, konnte er vor und hinter dem Wagen ausmachen, jedoch keine andere Person. Selbst der Kutscher hatte die Kluft eines Soldaten an. Er wollte sich gerade der Umgebung widmen, um ein ungefähres Bild von ihrer Reiseroute zu bekommen, als einer der berittenen Soldaten neben ihm auftauchte, ihm einen Stoß vor den Kopf verpasste und ihn anherrschte, er solle gefälligst unten bleiben. Nicht, dass er je genug gereist wäre, um ihre Position richtig einschätzen zu können. Er hatte dennoch das Gefühl, dass man so etwas in solch einer Situation machen sollte. Mutlos und verzweifelt sank Stephan in seine ursprüngliche Position zurück. Er schloss wiederum die Augen, um seinem gewaltigen Kopfschmerz ein wenig Linderung zu verschaffen. Zum Glück, dachte er, bestürmten ihn die Jüngeren nicht mit Fragen, wahrscheinlich hatten sie ebensolche Angst wie er. Was passiert mit mir?, fragte er sich. Werden die Soldaten uns auch töten? Nein, das würde wenig Sinn ergeben, dann hätten sie es schon bei dem Überfall auf das Dorf machen können, so wie sie mit all den anderen verfahren sind. Vielleicht würden sie an einem anderen Ort für ihren neuen Herrn harte Arbeit verrichten müssen. Eigentlich gefiel ihm die erste Alternative am besten. Was hatte er noch vom Leben? Sein Vater war tot, seine Schwester auch, er würde diesen grausamen Anblick niemals vergessen. Seine Mutter, ja seine Mutter. Er wollte bei der nächsten Gelegenheit abhauen und sie suchen. Darin bestand für den Moment seine Lebensaufgabe. Da war aber noch etwas, was ihm immens wichtig erschien. Die traurige Besatzung des Fuhrwerks zu beschützen? Nein, ja doch, aber das war es nicht. Der Gedanke, etwas Wichtiges außer Acht gelassen zu haben, war immer noch da. Und dann fiel es ihm wieder ein. Die letzten Worte seines Vaters, ausgesprochen mit einer Dringlichkeit, wie er es von seinem ansonsten schon strengen Vorbild nicht gewohnt war. Der Name ..., Gerard de Miletto, er hatte ihn behalten und nahm sich vor, ihn sich jeden Tag mindestens einmal ins Gedächtnis zu rufen, um ihn nicht zu vergessen. Jetzt hatte er schon zwei Gründe, um am Leben zu bleiben, eigentlich drei, das sollte für den Anfang genügen. Nun fasste er ein wenig Mut und öffnete erneut seine Augen mit dem Vorsatz, seine Leidensgenossen durch einen aufmunternden Blick ein wenig zu trösten. Ob es ihm gelang, konnte er im Nachhinein nicht genau sagen, jedoch hatte er das Gefühl, dass zumindest in Magdalenas Gesicht ein wenig Dankbarkeit zu erkennen war. Etwas zu sprechen, getrauten sie sich immer noch nicht. Und so schliefen sie nach und nach wieder ein.
Als Stephan erwachte, ging es einem Kopf schon wieder wesentlich besser. Die Schwellung in seinem Gesicht begann allerdings noch nicht abzuklingen. Er fragte sich, wie er wohl aussehen möge. Er hatte in seinem Leben schon das eine oder andere Veilchen gehabt und es endete meistens mit einem schillernden Farbenwirrwarr. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie er nun aussah. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, warum er vorhin so angestarrt worden war. Aber das war nun wirklich sein geringstes Problem. Das Fuhrwerk bewegte sich nicht mehr, und es war tiefe Nacht. Die Mitinsassen des Fuhrwerks schliefen alle. Stephan richtete sich nochmals halb auf und spähte über den Rand. Offenbar hatte man hier ein Lager für die Nacht errichtet. Die Soldaten schliefen alle in der Nähe des Feuers, das fast herunter gebrannt war, bis auf zwei Gestalten, die sich abseits des Feuers knapp außerhalb des Lichtkreises befanden. Er konnte nur noch ihre Umrisse erkennen. Allerdings ließ deren Haltung darauf schließen, dass auch sie während ihrer Wache eingeschlafen waren. Ist das die Gelegenheit zur Flucht?, dachte Stephan mit einem Mal, und Adrenalin schoss ihm durch den Körper. Er war hellwach. Eine seiner Aufgaben verlangte nach Erfüllung. Er dachte darüber nach, wie er es am besten anstellen sollte, als ihm bewusst wurde, dass er nicht die geringste Ahnung davon hatte, wo sie sich befanden. Wahrscheinlich würde er sich verlaufen und wilden Tieren zum Opfer fallen oder verhungern. Außerdem könnte er in diesem Falle der Aufgabe des Beschützers der Kinder nicht mehr nachkommen. Somit war es für diesen Moment klar, er würde eine bessere Gelegenheit abwarten. Sobald er alles in seiner Macht Stehende für die fünf Jungen und Mädchen getan hatte und sich besser in der Umgebung auskannte, wollte er einen Versuch starten. Als er nochmals über die Verpflegung nachdachte, die für eine Flucht von Nöten war, merkte er, dass er kurz vor dem Verhungern stand. Er hatte schon ewig nichts mehr gegessen. Stephan inspizierte seine Umgebung und bemerkte zwei Laibe Brot, die die Soldaten ihren Gefangenen, oder wie sie sich auch immer bezeichnen sollten, in den Wagen geworfen hatten. Zwei Laibe Brot für vier Jungen und zwei Mädchen, das war nicht sonderlich viel. Doch zum Überleben reichte es, zumal alle den vorletzten Winter miterlebt hatten, der aufgrund der missratenen Ernte fast das Ausmaß einer Hungersnot angenommen hatte. Er brach sich ein kleines Stück ab, kleiner als es ihm eigentlich zustand. Es war ziemlich hart, dennoch war es ein Hochgenuss für seinen ausgehungerten Körper. Nachdem er noch einen Schluck Wasser aus der Schale zu sich genommen hatte, verfiel er in Gedanken über die Dinge, die für ihn unwiederbringlich verloren waren.
Stephan konnte sich nur dunkel an seine ersten Lebensjahre erinnern. Aber er wusste, dass er nicht immer in seinem Dorf gelebt hatte. Er konnte sich erinnern, dass ganz am Anfang alles anders gewesen war. Er hatte in einem großen Gebäude gelebt, die Wände waren nicht aus Holz gewesen, der Boden hatte nicht aus fest getrampeltem Lehm bestanden, und es war immer warm gewesen. Hunger war ihm unbekannt gewesen, und die schrecklichen Gerüche von altem Stroh hatte es wohl damals auch nicht gegeben. Aber vor allem konnte er sich daran erinnern, dass sein Vater dauernd bei ihnen gewesen war. Auch war die Kleidung seiner Eltern viel bunter gewesen. Er hatte sich in den vergangenen Jahren oft gefragt, was wohl geschehen war. Er hatte den Eindruck, dass er ein glückliches, wohl behütetes Leben gegen eines mit harter Arbeit, der ständigen Bedrohung von Hunger und Kälte und ohne eine richtige Familie eingetauscht hatte. Eines Nachts war er mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern von diesem Paradies aufgebrochen und in ein kleines Dorf gekommen, das von diesem Zeitpunkt an ihr zu Hause gewesen war. Stephan konnte nicht genau sagen, ob das seine eigenen Erinnerungen waren oder sie lediglich aus den kargen Erzählungen seiner Mutter stammten. Jedenfalls wusste er, dass eines seiner drei Geschwister die Reise nicht überlebt hatte. Sein zweiter kleiner Bruder war im ersten Winter nach ihrer Ankunft gestorben. Auch an ihn konnte er sich nur ganz vage erinnern. Viel deutlicher war das Bild seiner verzweifelten Mutter vor seinem geistigen Auge. Er konnte es damals noch nicht richtig verstehen, wusste nur, dass etwas Schreckliches geschehen war. Sein Vater war seit ihrer Ankunft im Dorf nur noch sehr selten zu Hause, und wenn er einmal da war, hatte er viel im Dorf zu erledigen, besprach sich lange mit seiner Mutter und hatte nur sehr wenig Zeit für Stephan und seine Schwester. Das Lachen seines Vaters, dass ihm in seinen ersten Lebensjahren das Gefühl absoluter Glückseligkeit gegeben hatte, hatte er kein einziges Mal mehr zu hören bekommen. In den wenigen Gesprächen, die sie geführt hatten, ging es immer nur um eines. Stephan solle hart für seine Mutter und seine Schwester bei einem benachbarten Bauern arbeiten, damit sie wenigstens etwas in den Magen bekamen. Abends übten sie dann mit Mutter gemeinsam lesen, wobei sie ihr schwören mussten, niemandem etwas davon zu erzählen. Stephan war das ganz recht gewesen, er hätte sich wohl den Spott der anderen Jungen zugezogen. Sein Vater erklärte ihm, dass er wichtige Angelegenheiten zu erledigen hätte und ihm nicht mehr sagen könne. Er würde aber alles dafür tun, dass es ihnen bald wieder besser gehen würde. Nun fiel ihm auch wieder ein, wie verändert Vater war, als er kurz vor der Katastrophe von einer seiner Reisen zurückkam. Das war das erste Mal seit langem, dass eine Art Lächeln in Vaters Gesicht zu sehen war. Er schien nicht mehr so angespannt und umarmte alle Familienmitglieder ungewöhnlich intensiv. Das war einen Tag vor dem Überfall. Auch seine Mutter beantwortete Stephans brennenden Fragen nach seinem Vater nicht. Es sei sicherer für ihn, wenn er von all dem nichts erfahre, hieß es immer. So arbeitete er tagein, tagaus auf dem Feld. Seine Mutter und seine Schwester arbeiteten ebenso hart, dennoch merkte er, dass sie eine Außenseiterrolle in dieser Dorfgemeinschaft innehatten. Sie wurden zwar mit Respekt behandelt, doch entgingen ihnen die verstohlenen Blicke und die Gespräche hinter vorgehaltener Hand der anderen Dorfbewohner nicht. Sie waren allerdings auch die einzigen, die keinen erwachsenen Mann im Haus hatten. Jede der anderen Familien hatte einen Hausherren, der ständig zugegen war. Starb ein Familienoberhaupt, so zog die Familie unmittelbar nach der Beerdigung fort, wahrscheinlich zu Verwandten, oder ordnete sich einem anderen Haushalt unter. Dabei gingen die spärlichen Besitztümer immer an das neue Familienoberhaupt über. Ihre Situation, zwar mit einem Mann im Haus, der jedoch nie da war, war außergewöhnlich. Es war zwar ihr Zuhause, und einige schöne Tage hatte auch Stephan erlebt, aber er hatte ständig das Gefühl, fehl am Platze zu sein. Zum Glück für Stephan war den gleichaltrigen Jungen ihr Status egal. Vielleicht lag es auch an seiner körperlichen Überlegenheit den meisten Jungen gegenüber, jedenfalls fühlte er sich in deren Umgebung immer wohl, auch wenn sie nur wenige Stunden in der Woche zur Verfügung hatten, gemeinsam zu spielen. Wenn sie am heiligen Sonntag nach der Kirche die Gelegenheit hatten, weil sie mal nicht den Haushalt in Ordnung zu bringen hatten, spielten sie im Wald Räuber und Ritter. Stephan zog es vor, auf der Seite der Schurken mitzumischen. Der Ehrenkodex der Ritter schien ihm unlogisch. Warum sollte er jemandem Gnade gewähren, der kurz zuvor versucht hatte, ihm den Schädel einzuschlagen? Einmal waren sie beim Raufen erwischt worden. Da hatten sie alle zusätzlich so arge Prügel bezogen, dass sie sich am nächsten Tag kaum wieder erkannt hatten. Nachdem die Schmerzen allerdings verflogen waren, sahen sie es als eine Art Härteprüfung an und verabredeten sich gleich für einen neuen „Raubzug“, sobald es die Zeit erlaubte. Als er so darüber nachdachte, vermisste er seine Freunde schmerzlich. Alle waren etwas älter als er gewesen, und da von ihnen niemand mit in diesem Fuhrwerk unterwegs war, musste Stephan davon ausgehen, dass ihnen ähnliche oder gar schlimmere Dinge als Michael widerfahren waren.
Langsam erhellte sich der Horizont, und es kam wieder Leben in das Lager. Auch die anderen Kinder wachten auf, und die Soldaten gaben ihnen sogar etwas kaltes Fleisch, das vom Abend und nach deren Frühstück übrig geblieben war. Danach ging ihre Reise weiter. Es war ein regnerischer Tag, und trotz ihrer Schwermut begann Stephan, so unauffällig wie möglich mit den anderen Kinder zu kommunizieren. Aufgrund der Kälte schmiegten sich alle eng aneinander, wobei es Magdalena irgendwie schaffte, mit einem Mal einen Platz neben Stephan zu ergattern. Er genoss den Umstand, ihnen Trost spenden zu können. Das lenkte ihn von seinem eigenen Kummer etwas ab. So fuhren sie über einen matschigen Weg. Zweimal mussten sie sogar absteigen und dabei helfen, den Karren aus dem Dreck zu schieben. Gegen Mittag kamen sie verdreckt und durchgefroren an einem riesigen Gebäude aus Stein an. So etwas hatte von ihnen noch niemand zuvor gesehen. Angst davor was nun mit ihnen geschehen würde, überfiel sie ,als sie das schwere Tor passierten. Stephan entschloss sich, vom schlimmsten Fall auszugehen. So konnte er wenigstens seine Angst etwas im Zaum halten, und er schwor sich, es seinen Häschern nicht allzu leicht zu machen. Aber wie so oft kam alles anders.
Kapitel 3 - Burg Worringen
Sie fuhren durch ein gewaltiges Tor in einen riesigen Hof. In der Mitte blieb das Fuhrwerk stehen, und es geschah erst einmal nichts Besonderes. Ein paar Befehle wurden gerufen, und Stephan wagte es, abermals seinen Kopf über den Rand hinaus zu strecken, um seine Umgebung zu erkunden. Geschäftiges Treiben überall. Dienstmägde, beladen mit Körben, huschten von einem Gebäude zum nächsten. Bauern brachten Waren durch das Tor in den Hof, und Soldaten patrouillierten auf den Wehrgängen. Und plötzlich sah er ihn. Der Soldat, der ihnen in den Wald gefolgt war, der sich an ihnen vergriffen hatte, er konnte ihm Auskunft über seine Mutter geben. Alle guten Vorsätze waren vergessen. Stephan wollte sich gerade aus dem Wagen schwingen und einen Angriff auf diese schreckliche Kreatur beginnen, als eine schallende Ohrfeige vollkommen unerwartet einschlug. „Da haben wir wohl ein ganz forsches Bürschchen. Dir werden wir auch noch Manieren beibringen! Ihr Jungs ab in den Stall, dort wird man sich um euch kümmern. Ihr Mädels lauft zur Küche, aber rasch! Es steht ein Fest an, Irmgard kann alle Hilfe brauchen, und jetzt sputet euch, zack zack. Und du, mein forscher Freund, für dich habe ich eine besondere Aufgabe. Du kommst mit mir.“ In diesem Moment musste Stephan hilflos mit ansehen, wie ihre kurz zuvor aus der Not geborene Gemeinschaft wieder zerfiel. Und er konnte nichts dagegen tun. Aus Furcht, ein zweites Mal die Hand dieses Mannes, sie musste aus Stein sein, in seinem Gesicht zu spüren, ließ er sich hinterher zerren. Der Weg ging quer über den Hof auf einen Verschlag zu, und während Stephan darum bemüht war, nicht zu stolpern, hörte er „Steinfaust“ sagen, dass er den Boden im Geräteverschlag mit Stroh auszulegen habe, da ungewöhnlich viele Gäste für das anstehende Fest erwartet würden. Ungewöhnlich war die Lautstärke, mit der Stephan auf seine Aufgabe hingewiesen wurde. Er hatte fast den Eindruck, dass der grobe Kerl auffällig darauf bedacht war, andere Leute im Hof über seine Absichten zu informieren. Was sollte es auch für einen Grund geben, einer Kriegsbeute wie ihm diese Absichten, seien sie auch noch so unbedeutend, mitzuteilen? Stephan beschlich eine dunkle Vorahnung. Als die Holztür des Bretterverschlages hinter ihnen zuschlug, wurde seine dunkle Vorahnung zur bitteren Gewissheit. Mit den Worten: „So knackiges Frischfleisch ist mir schon lange nicht mehr vor die Flinte gekommen“, versetzte Arnulf Stephan einen gewaltigen Stoß, der ihn quer durch den Raum fliegen und extrem unsanft auf den Lehmboden knallen ließ. Er war noch damit beschäftigt, wieder Luft zu bekommen, da war dieser grobschlächtige Unmensch auch schon über ihm und nestelte an seiner Hose herum. Stephan versuchte, nach Luft schnappend, kriechend, um sich schlagend und in totaler Panik, irgendwie dem nahenden Unheil zu entkommen. Doch seine Fluchtmöglichkeiten wurden auf der einen Seite von der Bretterwand und der anderen Seite von „Steinfaust“ begrenzt. Es half alles nichts, weder der Versuch sich zu entwinden, noch zu beißen, er war hilflos ausgeliefert und versuchte, sich auf das nun kommende Martyrium vorzubereiten. Seine Gegenwehr schien sein Gegenüber noch zu beflügeln, und als das Monster in Stephan eindrang, waren Schmerz, Scham, Wut und Hass so außerordentlich groß, dass er am liebsten an Ort und Stelle gestorben wäre. Doch selbst die Bewusstlosigkeit blieb ihm verwehrt. Nachdem Steinfaust von ihm abließ, seine Hose hochzog, flüsterte er ihm beim Hinausgehen noch zu: „Danke, junge Dame, ich freue mich schon darauf, dir das nächste Mal den Hof zu machen“, lachte dabei dreckig und rief anschließend wieder übertrieben laut: „Beeil dich mit dem Stroh und melde dich danach im Stall.“ Doch Stephan hörte nicht mehr zu, er lag als Häufchen Elend zusammengekauert, zitternd und blutend auf dem Lehmboden und wünschte sich zu seinem Vater, seiner Schwester und seinem besten Freund. Nachdem er eine Weile so dalag, polterte die Tür auf und „Steinfaust“ stand im Raum. In Stephan zog sich aus Angst sofort alles zusammen, doch „Steinfaust“ zischte ihn nur an, sich ja nichts anmerken zu lassen. Er wäre nicht der Erste, der „geflohen“ sei und in Wirklichkeit am Grunde des Teiches außerhalb der Burg den Fischen Gesellschaft leistete. Und als er merkte, dass er dieses Kind wohl gebrochen hatte, fügte er hinzu, dass die süße Kleine, die ihm Wagen neben ihm gesessen hätte, auch im Teich an seiner Seite bleiben dürfe. Und zum Schluss: „Wenn ich zum Morgengrauen diese Hütte nicht mit Stroh ausgelegt und dich einigermaßen vorzeigbar sehe, sehen du und die Kleine die nächsten Sonnenstrahlen nicht mehr, einen Schwur drauf.“ In diesem Moment achtete Stephan nicht auf die Drohung. Doch im Laufe der nun folgenden Nacht, der schlimmsten seines bisherigen kurzen Lebens, erwachten die totgeglaubten Lebensgeister, nicht aus Furcht um sein Leben, sondern aus Furcht um das Leben der kleinen Magdalena und aus Hass auf Steinfaust. So fand ihn sein Schänder am nächsten Morgen in einem Verschlag mit ausgelegtem Stroh und, wie befohlen, soweit vorzeigbar vor, wie es die Blessuren und die teilweise zerrissene Kleidung zuließen. „Da hast du aber Glück gehabt“, sagte Steinfaust, „ich hab schon gar nicht mehr damit gerechnet“, und schmiss den vorsorglich mit-gebrachten Leinensack in eine Ecke. „Ab zu Irmgard in die Küche, dort gibt’s was zu beißen, und denk dran, ein Wort und der Sack hier findet seine Bestimmung.“
Stephan hatte keine Ahnung, wo die Küche war, doch just als er den Bretterverschlag verließ, sah er ein paar junge Burschen, unter ihnen auch die aus seinem Dorf, auf ein Gebäude unmittelbar neben dem Hauptgebäude zutrotten. Er schloss sich an und erntete von den Burschen verwunderte Blicke. Sein apathischer Zustand ließ ihn das jedoch nicht mitbekommen, auch nicht das karge Frühstück, die Küchenmagd Irmgard oder die harte Arbeit an diesem Tag in den Stallungen. Am späten Abend folgte er dann den Burschen zunächst wieder in die Küche, wo es eine Suppe gab, und anschließend in eine nicht genutzte Box im Stall, wo alle Burschen sich zum Schlafen niederlegten. So zogen die nächsten Wochen an ihm vorüber, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Er hatte sich in seinen Geist zurückgezogen und ließ nur Befehle durchsickern, die er dann ausführte. Nichts sonst beachtete Stephan.
Als er eines Morgens gerade damit beschäftigt war, Pferdemist im Burghof aufzusammeln, öffnete sich das Tor, und ein kleiner Trupp Reiter ritt in den Hof. Als einer der Berittenen Befehle brüllte, erstarrte Stephan fast zu Stein. Diese Stimme kannte er und verknüpfte sie sofort mit einer der schlimmsten Erfahrungen seines Lebens. Bei dem Mann auf dem Pferd handelte es sich um den Schurken, der ihm und seiner Mutter in den Wald gefolgt, ihn in den Schlaf gehauen, gefangen genommen hatte und bestimmt schlimme Dinge mit seiner Mutter angestellt hatte. Stefan starrte Hauptmann Anno an und konnte seinen Blick nicht abwenden, als ihn ein Schlag auf den Hinterkopf in den soeben zusammengeschobenen Pferdemist beförderte, gefolgt von den barschen Worten: „Steh nicht im Weg, Bursche!“. Ein Soldat des Reitertrupps schmiss Stephan alsdann die Zügel zu und gab ihm zu verstehen, dass er sich gut um sein Pferd zu kümmern habe. Wenn er drei Stunden vor der Abenddämmerung seinen Gaul nicht in bester Verfassung vorfinden würde, würde es eine Tracht Prügel setzen. Anno, auf die Szene aufmerksam geworden, kam der Bursche seltsam bekannt vor. War das nicht der Junge, der vor einigen Monaten bei der „Rekrutierung“ zukünftiger Soldaten so kampflustig seine Mutter verteidigt hatte? Ja, das musste er sein. Genützt hatte es seiner Mutter zwar nichts, die Hure dürfte mittlerweile bereits von den Würmern wieder ausgeschissen worden sein, aber er erinnerte sich an die Wut und den Zorn in den Augen des Jungen und daran, dass er sich sicher war, dass das einmal ein guter Soldat werden würde, falls er die ersten Jahre auf den Schlachtfeldern überlebte. Anno nahm sich vor, später mit Arnulf, dem Hofmeister, über die weitere Verwendung des Jungen zu sprechen. Zunächst musste er jedoch mit seinem Herrn sprechen und ihm die Neuigkeiten erzählen. Was für ein Glück, die Gerüchte über den Tod Ottos schienen sich bestätigt zu haben. Zwar war seine Leiche nicht gefunden worden, doch waren die Aktivitäten und Nachforschungen rund um Burg Wassenberg seit einigen Wochen vollkommen erloschen. Spuren des französischen Gelehrten waren endlich ausfindig gemacht worden. Er hatte Sack und Pack in einer Herberge in Erkelenz stehen lassen und war seither nicht mehr gesehen worden. Vielleicht war auch er wie Otto irgendwo, irgendwie verreckt. Sollen sie doch in der Hölle schmoren, es lief derzeit einfach alles wie am Schnürchen. Sein Herr würde jedenfalls sehr zufrieden sein. „Reinold, nimm die Papiere, die der Miletto in der Herberge zurück gelassen hat, und komm mit"! Der Soldat, der Stephan mit der Pflege seines Pferdes betraut hatte, nahm eine Holzkiste, die am Pferd befestigt war, und folgte Anno… während Stephan kaum noch Luft bekam. Da war er, der Name, den sein Vater im letzten Atemzug genannt hatte, und den er sich seit diesem Tage einmal täglich wiederholt hatte, um ihn nicht zu vergessen. Er war zu ungewöhnlich und fremdländisch, als dass es sich um einen anderen Miletto handeln könnte. Außerdem wurde er von dem Mann ausgesprochen, den er am meisten hasste und der just an jenem Tage sein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte, als er den Namen zum ersten und einzigen Mal gehört hatte. Das konnte kein Zufall sein. In Stephan regte sich was. Etwas, das verloren gegangen schien. Doch es war noch da und bahnte sich seinen Weg zurück an die Oberfläche. Diesen Namen aus diesem Mund zu hören, ließ Stephan sein Ziel wiederfinden. Seine Lebensgeister waren mit einem Mal wieder vollständig da! Koste es, was es wolle, er würde Gerard de Miletto finden und das Geheimnis lüften. Wenn er dafür über die Leiche dieses Hauptmanns klettern müsste, um so besser! Die nächsten Tage verbrachte Stephan damit, die Burg zu erkunden. Die letzten Monate war er wie in Trance umhergewandelt und hatte die ihm zugewiesenen Aufgaben erledigt, so gut es sein Zustand zuließ. Dabei hatte er seine Umwelt größtenteils ausgeblendet. Nun nahm er die Dinge um ihn herum wieder wahr. Vor einem halben Jahr, als noch alles in Ordnung schien, hatte er noch davon geträumt, so eine Burg wie diese hier zu sehen.
Auf einer leichten Anhöhe gelegen, quadratisch angelegt, mit meterdicken Mauern, Wehrgängen, Zinnen, Schießscharten, insgesamt fünf Wachtürmen und einem enormen Fallgitter aus Holz mit Metallbeschlägen. Im Inneren befand sich der Bergfried, ein breiter, hoher Steinturm, der leicht versetzt neben dem Torhaus gerade so weit von der Mauer entfernt stand, dass man nicht hin oder her springen konnte. Der Zugang befand sich in etwa drei Metern Höhe und war nur über eine Leiter zu erreichen, die bei Bedarf hochgezogen werden konnte. Im Innenhof der Burganlage befand sich der Übungsplatz. Dort wurde tagtäglich trainiert, sowohl mit Bögen, Armbrüsten und Schwertern als auch mit Pferden und an der Stechpuppe. Ausbilder dort war ein glatzköpfiger Haudegen namens Wulf, der den ganzen Tag seine bemitleidenswerten Kämpfer unermüdlich zusammenschiss. Allerdings hatte Stephan den Eindruck, dass am Ende des Tages Ausbilder und Kämpfer meist bester Laune waren, die allesamt eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein schienen. Innen an der Burgmauer reihten sich dann mehrere Gebäude auf, die im Abstand von einigen Metern angeordnet waren, teilweise aus Holz und teilweise aus Stein erbaut. Schmiede, Pferdestallungen, Vorratshaus, eine Küche, die nach links und rechts etwas mehr Abstand zu den anderen Gebäuden hatte, ein Burggarten und dann das prächtigste Gebäude, der Palas mit angrenzender Burgkapelle. Einige andere Gebäude waren auch noch vorhanden, zum Beispiel ein Aufenthaltsraum und eine Schlafstatt für die Soldaten in der Burg. Es dürften so zwanzig sein, schätze Stephan. Dann war da noch der verhasste Holzverschlag, den Stephan seit dem Tag seiner Ankunft zum Glück nicht wieder betreten hatte müssen. Merkwürdigerweise war sein Peiniger Steinfaust seit dem Vorfall fast bemüht, freundlich zu ihm zu sein. Wie Stephan mittlerweile mitbekommen hatte, war sein Name Arnulf, und er war der Hofmeister der Burg. Er bewohnte den Bergfried, zumindest ging er abends dort hinein, und kam morgens wieder heraus.
Stephan hingegen schlief mit genau dreiundzwanzig anderen Kindern, alle im Alter von sechs bis zwölf Jahren, in einem Schuppen direkt neben den Pferdestallungen, wo es ständig nach Pferdekacke roch. Stroh als Bettstatt und ständiges Husten, Röcheln und Schnarchen hielten Stephan und die anderen nicht vom Schlafen ab. Nach den harten Arbeitstagen von Sonnenauf– bis Sonnenuntergang hätte Stephan auch im Stehen auf dem Bergfried schlafen können. Stephan nahm sich nun einiges vor. Er wollte zunächst einmal überleben, um so das Schicksal seiner Mutter zu erfahren und sie möglicherweise zu retten, um anschließend Gerard de Miletto aufzusuchen und das Geheimnis seines Vaters zu lüften. Dazu bräuchte er sich nur die Papiere zu besorgen, über die die Soldaten gesprochen hatten. Die müssten ja nun in den Händen des Burgherrn sein. Ihn hatte er zwar erst zweimal aus der Ferne zu Gesicht bekommen, doch mit einem Mal so dicht dran an den Informationen über die wichtigste Frage seines Lebens zu sein, beflügelte Stephan enorm. Wenn ihn der Hofmeister weiterhin in Frieden ließe, würde Stephan bestimmt einen Weg finden, in den Palas zu gelangen und nach den Dokumenten zu suchen. Es würde bestimmt nicht leicht werden, riskant sowieso, und es würde einer sehr genauen Vorbereitung bedürfen, aber er hatte nun eine Aufgabe.
Kapitel 4 - Arnulf
Es war natürlich wesentlich einfacher gedacht als getan. Unzählige Aufgaben, die zu verrichten waren, die Betriebsamkeit und die Tatsache, dass man wirklich niemals allein war, machten Stephans Aufgabe schwer, sogar fast unmöglich. Er versuchte, so viele Informationen zu sammeln und sich Details einzuprägen, wie er nur konnte, und doch hatte sich ihm nicht einmal die Möglichkeit geboten, in den Palas zu gelangen. Der Burgherr war nur alle paar Wochen in der Burg, und in der Zeit seiner Abwesenheit wurde der Palas so gut wie nicht genutzt und nur durch ein paar Mägde dann und wann betreten. Wenn er da war, hatten die älteren Kinder die Aufgabe, das Essen in der Burghalle aufzutragen. Stephan war dafür noch zu jung. Auch wenn Irmgard, die strenge Küchenmagd, an Stephan einen Narren gefressen hatte, so war auf keinen Fall daran zu denken, dass er die ehrenvolle Aufgabe der Bewirtung im Palas übernehmen durfte. So musste Stephan auf anderem Wege an die gewünschten Informationen gelangen. Er versuchte, alles über das Innere des Palas von eben diesen älteren Jungen zu erfahren, die diese Aufgabe verrichteten. Dabei lernte Stephan zwei Dinge über sich selbst. Erstens hatte er die besondere Fähigkeit, andere Personen sehr gut einzuschätzen. So konnte er durch bloßes Zuhören und genaues Beobachten in verschiedenen Situationen herausbekommen, was in den anderen vorging, ohne selbst auch nur ein winziges Etwas von sich preiszugeben. Einzig Magdalena war von Stephan schwer einzuschätzen, und er bemerkte, dass sie ihn genauso beobachtete wie er die anderen. Die zweite Fähigkeit, vielleicht Folge der ersten, war die Tatsache, dass er trotz seines jungen Alters von allen Kindern, selbst von den ältesten, respektiert wurde. Er bekam mit, dass es eine Hackordnung unter ihnen gab und die Älteren immer auf den Nächstjüngeren herumhackten. Der einzige, der dieser Ordnung nicht unterlag, war er. Und als die anderen merkten, dass Magdalena auf irgendeine Weise mit Stephan verbunden schien, ließen sie auch sie in Frieden. So erfuhr Stephan, dass allein seine Anwesenheit und sein Umgang mit den anderen ausreichte, damit Menschen, an denen Stephan etwas lag, Schutz erfuhren. Über den Palas erfuhr er allerdings nichts, das von großer Bedeutung war, was allerdings nicht an der fehlenden Aussagebereitschaft der Burschen lag, sondern daran, dass diese die Speisen und Getränke durch einen Nebeneingang in den Speisesaal brachten. Dort standen sie dann in der Nähe der Speisenden und schenkten nach, wenn es nachzuschenken galt. Lediglich das Haupttor des Palas, einen Zugang zur Kapelle und eine breite Treppe, die unmittelbar hinter dem Tisch des Burgherrn nach oben führte, konnten die Burschen ihm beschreiben. Damit war für Stephan zumindest klar, dass er sich nicht weiter um einen Bewirtungsposten bemühen musste. Sich hinter dem Tisch des Burgherrn unter den Augen zahlreicher Gäste über die einzige breite Treppe in einem unbeobachteten Moment nach oben zu schleichen, käme wahrscheinlich einem Selbstmord gleich.
Er musste sich etwas anderes ausdenken und erkannte gleichzeitig, dass er seine Ziele nicht so schnell erreichen würde, wie er zunächst gehofft hatte. So gingen die nächsten Monate seines Aufenthaltes in der Burg bei harter Arbeit in den Pferdeställen und der Suche nach einem Weg in den Palas vorüber. Es trafen zwei Mal weitere Kinder auf der Burg ein, so dass es in dem Schlafschuppen allmählich eng wurde. Er schaute bei allen Neuankömmlingen in angsterfüllte Gesichter und fand in Gesprächen heraus, dass tatsächlich jedes einzelne der mittlerweile einunddreißig Kinder Stephans Schicksal teilte.
Eines Tages, ein Sauwetter herrschte seit einigen Tagen und der Regen peitschte über den Hof, rannte Stephan auf dem Weg von der Küche zu den Pferdeställen an dem Gebäude vorbei, das den Soldaten als Aufenthaltsraum diente, und wurde durch einen Pfiff und eine Geste von Wulf, der im Eingang stand, zu ihm befohlen. Bei diesem Wetter war ein Exerzitium auf dem Hof nicht möglich und einige Soldaten saßen an den Tischen, würfelten und tranken, als Stefan das Gebäude betrat. Ein Soldat machte eine abfällige Bemerkung, die ein allgemeines Gelächter herbeiführte, das nur durch die Art, wie Wulf die Soldaten daraufhin anblickte, sofort endete. Wulf blickte Stephan intensiv an: „Der Hofmeister hat mir von dir berichtet. Hauptmann Anno sagt, in dir stecke Kämpferblut, und mein jüngster Lehrling sagt, dass die anderen in dir einen Anführer sehen. Den sehe ich noch nicht, und viel zu jung, um mit dem Kampftraining zu beginnen, bist du auch. Ich habe dich aber im Auge und will dir schon einmal einen Rat mitgeben. Schaue uns beim Training zu, wann immer du kannst, und stärke deine Muskeln, wann immer du kannst. In Zeiten wie diesen ist ein Leben kaum eine Münze wert, und jeder muss so gut, wie es nur geht, darauf vorbereitet sein, es zu verteidigen. Und jetzt schleich dich, wir sprechen uns wieder.“ Obwohl diese Worte hart ausgesprochen waren, erkannte Stephan die Aufrichtigkeit, die dahinter steckte. Wulf hatte es in unter einer Minute geschafft, in Stephans Welt eine wichtige Person zu werden. Als der Sturm ging, kam der Schnee. Es wurde ein harter Winter. Stephan tat, wie ihm geheißen war, und beobachtete die Soldaten, so oft er die Möglichkeit hatte. Er ließ sich freiwillig zu den im Winter gehassten Außenarbeiten einteilen, um sich so viele Bewegungen wie möglich einzuprägen. Er stellte dabei fest, dass nicht die Kräftigsten gleichzeitig die besten Kämpfer waren, auch nicht die Geschicktesten, wie er zunächst vermutet hatte, sondern es waren die Gelassenen. Diejenigen, die ruhig blieben, ihren Gegner analysierten, alles in ihrer Umgebung beobachteten und darauf reagierten. Morgens, bevor die Sonne aufging, machte er Übungen, um seine Muskeln zu stärken. Zuerst hatte er sie abends vor dem Schlafen machen wollen, doch merkte er schnell, dass die harten Arbeitstage die Muskeln derart beanspruchten, dass ein Hochstemmen des Körpers aus der Waagerechten oder das Hochziehen an einem Balken schlicht nicht mehr drin waren. Machte er die Übungen morgens, hatte er genug Kraft und die Arbeit erledigte er tagsüber trotzdem, nicht mehr mit so viel Elan wie zuvor, doch, verstecken brauchte er sich auch nicht.
Es dauerte nur einige Monate, und die körperlichen Arbeiten fielen ihm viel leichter als zuvor. Nicht nur, dass die morgendliche Ertüchtigung sich auszahlte, er wuchs und mit ihm wuchsen seine Muskeln. Und die ganze Zeit über beobachte und beobachtete er sowohl die Kämpfer als auch die Menschen in seiner Umgebung. Dabei fiel ihm auf, dass Wulf etwas zu schaffen machte. Wulf war nicht der Typ, der sich mit seinen Problemen an andere wendete. Stephan konnte immer mal wieder beobachten, wie Wulf einen Fetzen Pergament aus seinem Wams holte, ihn drehte, wendete und manchmal zusammenknüllte und wegwarf, nur um ihn später wieder glatt zu streichen und in seinem Wams verschwinden zu lassen. Das tat er allerdings nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Stephan war durchaus bewusst, dass er am allerbesten gar nichts von sich preisgab. Vor allem die Tatsache, dass er lesen konnte, war viel zu außergewöhnlich, um sie jemanden wissen zu lassen. Er fühlte sich jedoch zu Wulf auf unerklärliche Weise hingezogen. Vielleicht weil Wulf der Einzige war, der ihm in der Zeit seit seiner Ankunft so etwas wie Freundlichkeit entgegen gebracht hatte, vielleicht aber war es auch nur das starke Gefühl, dass er Wulf vertrauen konnte. Als wieder so ein Moment kam und Wulf mit sich und seinem Stück Papier haderte, trat Stephan neben ihn und fragte: „Soll ich ihn vorlesen?“ Wulf erschrak für den Bruchteil einer Sekunde, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle. Wulf wollte Stephan zunächst mit einer verächtlichen Geste davonjagen, doch die Art und Weise, wie dieser Junge dastand und ihn anblickte, ließen keinen Zweifel zu, dass er tatsächlich lesen konnte. Darum reichte er ihm das Pergament mit einem respektvollen Blick. Und Stephan las: „Diesem tapferen Soldaten Wulf verdanke ich mein Leben! Sollte er je nach Köln reisen, ist ihm bei jedem aus dem Hause Overstolzen und denen, die den Overstolzen gut gesonnen sind, Freundlichkeit zu gewähren. Gerhard Overstolz“. Wulf fing an zu lachen, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Und ich zermartere mir seit Jahren den Kopf, was dieser alte Haudegen bloß von mir wollte.“ Dann blickte er Stephan an und sagte: „Ich danke dir mein Junge, du hast was gut. Ich werde dir bei Zeiten erzählen, was es damit auf sich hat. Bei der Gelegenheit kannst du mir dann erzählen, woher du das kannst. In dir steckt noch mehr, als ich dachte.“ Damit ging Wulf weg, wobei er wieder leise lachte und den Kopf schüttelte.
Stephan wusste, er hatte alles richtig gemacht. Wulf zu helfen, war eine riskante, aber gute Entscheidung gewesen, und mit dieser Euphorie ging er beschwingt über den Burghof, am Bergfried vorbei. Da packte ihn ganz unverhofft von hinten eine eisenharte Faust in den Nacken. „Was hast du denn mit dem Wulf zu schaffen, Freundchen? Anstatt zu schwätzen, hast du doch bestimmt Arbeit zu erledigen. Anscheinend nicht! Rauf auf die Leiter und ab in meine Kemenate mit dir, da kannst Du mal richtig Reine machen!“ Stephan erstarrte. Er wollte wegrennen oder um Hilfe rufen, doch der Griff von Arnulf im Nacken ließ Ersteres nicht zu. Auch wenn Stephan in dem Jahr, das er hier lebte, wesentlich an Kraft gewonnen hatte, so hatte er keine Chance gegen diesen Griff, der die Gewalt eines Schraubstockes zu haben schien. Es blieb also nur noch der Hilferuf. Verzweifelt rief er den Namen von Wulf, was dazu führte, dass der Schraubstock noch gefühlte drei Zentimeter enger wurde und ein Atmen beinahe unmöglich machte, geschweige denn ein Rufen. Gleichzeitig wurde er auf der Leiter vor Arnulf her nach oben gestoßen oder schon beinahe getragen. Panik stieg in Stephan auf, als plötzlich die Stimme von Wulf ertönte, die über eine gewisse Entfernung rief: „He Arnulf, schick mir den Burschen doch mal zu uns, wir haben da ein paar Arbeiten zu erledigen.“ Arnulf antwortete: „Klar mach ich, zunächst muss er aber noch bei mir Reine machen. Danach schick ich ihn rüber.“ Der Hoffnungsschimmer bei Stephan erlosch, als er weiter voran zum Eingang des Bergfrieds getrieben wurde. „Na warte, du glaubst wohl, dein neuer Kumpel kann dich vor dem beschützen, was dir jetzt blüht. Nix da, hier hab ich immer noch das Sagen, und so ein hergelaufener Vagabundensoldat hat nix zu kamellen. Wenn die Zeiten nicht so gefährlich wären, hätt ich ihn schon längst vom Hof gejagt. Wir brauchen aber jeden Mann. Und nun zu dir.“ Als Stephan das Martyrium zum zweiten Mal hinter sich gebracht hatte, befahl im Arnulf, sich bei Wulf zu melden und für den Fall, dass er auf die Idee kommen sollte, auch nur ein Sterbenswörtchen über die Vorlieben des Hofmeisters zu erwähnen, würde der Leinensack samt ihm doch noch den Grund des Teiches erkunden. Stephan brauchte auch kein Wörtchen zu erwähnen, als er bei Wulf im Aufenthaltsraum erschien. Wulf erfasste mit einem Blick das Geschehene anhand des Häufchens Elend, das vor ihm stand und sagte: „Ich hatte ja keine Ahnung, ich hab gedacht, du kriegst ´ne Tracht Prügel und gut ist. Das wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir! Auch wenn dir das im Moment kein Trost sein mag. Geh, leg dich hinten in den Schlafraum der Soldaten. Da bleibst du, bis ich dich wecke.“
Arnulf konnte es kaum fassen, als er Wulf in seine Kemenate eintreten sah: "Was fällt Dir ein, unangemeldet hier herein...". „Auf ein Wort, Hofmeister Arnulf!" „Komm wieder, wenn es mir besser pa...." „Solltest du dem Jungen je wieder so etwas antun, hat deine letzte Stunde geschlagen!" „Was fällt dir ein, so mit mir zu reden und mir zu drohen! Hat der kleine Scheißer Lügen über mich erzählt, nur weil er eine Tracht Prügel bezogen hat? Mit mir nicht, ich werde...." „Lass es mich klarer ausdrücken, fuhr Wulf in ruhigem und eiskaltem Tonfall fort, „Bekomme ich mit, dass du deinen Schwanz noch ein einziges Mal in Öffnungen steckst, in denen er nichts zu suchen hat, werde ich jeden Atemzug darauf verwenden, dich zu vernichten! Du weißt, dass mir alle Soldaten treu zur Seite stehen, sollte es drauf ankommen. Für mich soll das Thema hier enden und nie wieder Erwähnung finden, wenn du dich von nun an im Zaum hältst." Ohne die Erwiderung abzuwarten, verließ Wulf den Bergfried. Was für ein Dummkopf, dachte Arnulf. Das hätte auch schlimmer enden können. So bekommt weiterhin keiner was von meinen Vorlieben für kleine Jungs mit. Stephan hatte sich auch bei diesem letzten Mal so gewehrt, dass es fast keinen Spaß gemacht hatte. Der Junge vom Schmied war immer wie ein verängstigtes Kaninchen, das gefiel ihm sowieso viel besser. Sollte Stephan doch bleiben, wo der Kaiser die Huren her bekam. Ihn zu drangsalieren und Wulf loszuwerden, da würde ihm schon was einfallen. Und wenn Wulf erst einmal weg war, wer weiß... vielleicht würde er Stephan dann noch einmal eine Chance geben.
Stephan wurde wach, als ein Soldat ihm Wasser reichte. „He Junge, schäm dich nicht. Das ist schon ganz anderen passiert." Es war der engste Vertraute von Wulf, der diese Worte zu ihm sprach. Doch sie verfehlten ihr Ziel, zumindest teilweise. Er schämte sich unendlich, doch den Tod wie beim letzten Mal wünschte er sich nicht mehr herbei. Sein Geist war besessen von Rache. Arnulf würde dafür elendig zu Grunde gehen, das schwor er sich in diesem Moment. In diesem Augenblick war ihm das noch wichtiger als die Suche nach seiner Mutter oder die letzten Worte seines Vaters. „Ich soll dir von Wulf ausrichten, dass Arnulf ab jetzt die Hände von dir lässt. Und mach dir keine Sorgen, außer mir weiß niemand mehr davon und es wird auch keiner erfahren. Das solltest Du auch beherzigen, die Sache auf sich beruhen lassen und das Leben geht weiter." Stephan nickte und dachte: Bis auf das Leben von Arnulf, das wird enden. So wahr mir Gott helfe.
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